PROSA.

Das Telefonat

So tröstlich war dies kurze Wort, diese kleine Ansprache. Die Abwesenheit seiner Worte, die Zielrichtung, welche sie einschlugen, war ebenso schön wie entmutigend, denn sie golten größtenteils nicht mir, diese Mitteilungen. Nein, es war jemand anderes, der sich, selbst nicht bewusst, dem Genuss der Stimme meines Freundes aussetzte – nichtsahnend, wie kostbar und wertvoll ebendiese zu bezeichnen ist. Für mich war es die Zigarette des Tages, die Nadel der Nacht, die Schokolade des Mittags, der Kuss des Lebens. Ja, es war wahrhaftig ein Beleben der inneren Lippen durch die Laute, die die seinigen verließen. Ganz und gar erfüllend für den Bruchteil einer Sekunde. Die Würze, die Akzentuierung. Die wundersame Betonung der zu betonenden Klänge. Und die Entschädigung für die Ausrede seines Zeitdefizits war der Trost einer Verschiebung. Inhalt gegen Formulierung, gegen Aussprache. Der vage Trost einer Vertröstung auf spätere Zeit ist nichts hingegen einer makellosen Zusammenstellung von Worten und nicht zu vergessen die Sprechgewohnheit des Gegenübers, die über den Inhalt hinweg verzaubern kann. Die Liebe zu einer Stimme, zu der Sprache eines Sprechers, ist wie die Morgenröte, die einem entgegen blickt, sobald man zu früher Stunde das Fenster öffnet. Kurzweilig und doch so intensiv. Selbst die Flüchtigkeit seiner Ansprache war tröstlich. Es war der Versuch, mir, seiner Zuhörerin, keinen Schmerz zufügen zu wollen und mich gleichzeitig recht effektiv abzuhandeln. Diese Gesinnung nahmen meine Ohren in feinster Nuancierung wahr. In jedem Wort, jedem Buchstaben steckten drei Worte, zwölf Buchstaben: „Es tut mir leid“.

Foto: Tom Klein
PROSA.

Wenn die Möglichkeiten es unmöglich machen, sich zu entscheiden

Die Gardinen werden zugezogen, die Lampen ausgemacht und somit verschwindet jede Lichtquelle. Ich befinde mich in einem kreisrunden Raum, in dem aus jeder Himmelsrichtung eine Tür irgendwo hinführt. Dazwischen ist jeweils ein Fenster auszumachen. Jedes davon hat die Größe einer Tür, jedoch unterscheiden sich die Fenster durch spinnennetzdicke Gitterstäbe, durch die man nicht hindurch treten kann. Meine Augen spielen Taschenlampe. Mit dem linken Auge erhelle ich den Raum, in dem ich alleine und ohne Hilfe stehe. Mit dem rechten kann ich sehen, wohin mich die jeweiligen Wege führen werden, wenn ich durch die Tür schreiten würde. Mit zwei offenen Augen sehe ich nur Schwärze. Schließe ich beide Augen, wird mir offenbart, was hinter den Fenstern geschieht.
Es gibt so viele Möglichkeiten, doch da ist eine einzige Regel, der ich mich unterwerfen muss, sonst werde ich irgendwohin geschickt. Diese besagt, dass ich nur zwei Mal blinzeln darf, sonst blüht mir die Entscheidung des Zufallsgenerators. Ich überlege und habe dabei die Augen offen. Obwohl ich weiß, dass ich keine Chance habe, hinter die Türen oder durch die Fenster zu blicken, strenge ich mich an, vielleicht doch auf Hinweise zu stoßen, die sich in der Schwärze bemerkbar machen könnten. Jedoch werde ich enttäuscht. Leider habe ich keine Ahnung, was mich wo erwarten würde oder wie sehr sich die Wege voneinander unterscheiden. Reflexartig muss ich nach einigen Sekunden die Augen schließen. Nacheinander wird es Morgen hinter den Fenstern zwischen den Türen. Ein Blinzeln ist schon verbraucht. „Was nun?“, frage ich mich nervös. Und was bedeutet es überhaupt, wenn ich die Welt hinter den Fenstern durch mein inneres Auge sehe? Mir kommt immer ein Gedanke in den Kopf, der lautet, dass ich weise entscheiden sollte. Das erscheint mir jedoch fast unmöglich.
Inzwischen ist die Sonne hinter den Fenstern aufgegangen und die Aussichten erleichtern meine Entscheidung auch nicht gerade. Nordöstlich erkenne ich dichten Fichtenwald mit seltsamen Luftballons zwischen dem Geäst. Es herrscht dort eine gespenstische Stille. Zwischen Osten und Süden mache ich viel graue Landschaft aus mit vereinzelten Rollstühlen, die scheinbar unabhängig voneinander dort stehen. Das nächste Fenster zeigt mir einen Laden mit Kostümen für Marionetten, die alle ein wenig an Priester- oder Pfarrersroben erinnern. Hinter dem letzten Fenster verbirgt sich blauer Nebel, der sich zyklisch in Tröpfchen zusammenzieht. Diese verwandeln sich wiederum schwerelos in umher schwebende Glaskugeln. Diesem Kreislauf zuzusehen, lässt mich beinahe in Trance verfallen. Doch ich wehre mich dagegen und öffne aus Versehen dabei mein linkes Auge. Mein Herz bleibt stehen, ehe ich überhaupt realisieren kann, dass ich schon zwei Mal geblinzelt habe und mich jetzt, wo ich nichts außer den runden Raum sehe, entscheiden muss. Die Panik erreicht mein Bewusstsein. Mit klopfenden Herzen versuche ich rational zu einer Entscheidung zu kommen, doch ich versage. Jemand öffnet mir die Augen, ich werde durch eine Tür geschickt, durch die ich bisher nichts sehen konnte und auch jetzt nicht. Alles ist schwarz.
Jemand schnippt mit dem Finger. Die Tür hinter mir schließt. Es gibt kein Zurück mehr. Keine Chance auf einen anderen Weg.
Ich sage gedankenversunken „Ja“. Irgendwo fragt jemand „Was, ja“? Ich sage erneut „Ja“. „Ja, ich will“ und sehe mich dabei in meiner Umgebung um. Die Orgel ertönt und ich bekomme einen Kuss. 
Jemand hat mich geheiratet.

PROSA.

Staub & Langeweile

Die versteinerte Aura meiner gefesselten Seele blickte starr geradeaus auf die Projektion im menschengefüllten Vorlesungssaal. Ich dachte von Anfang an, dass es keinen Sinn haben würde, zuzuhören. Meine Augenlider wurden schwer, mein Interesse neigte sich dem Ende zu und ich kehrte in mich zurück. Weit weg vom Geschehen war ich binnen Sekunden. Eine neonbunte Krähe redete auf Arabisch mit mir. Ich verstand ihn, jedoch konnte ich mich nach jedem Wort nicht mehr daran erinnern, was ich gehört hatte. Sein Schnabel bewegte sich gar nicht beim Sprechen. Mein Mund auch nicht, während ich ihm antwortete. Dafür arbeitete meine Zunge ununterbrochen auf dem Tisch vor mir. Sie leckte alles auf. Den ganzen Staub von der Langweile der Kommilitonen. Ich sog sie auf. Und ich zog ihre Lustlosigkeit an, wie eine Hose, gefüllt mit Tonnen von Staub, der in den Seitentaschen vor sich hin bimmelte.
Draußen klatschte ein ordentlicher Rabe an die Fensterscheibe. Das interessierte aber niemanden. Eine Masse von geheuchelter Konzentration lag in der Luft. Der Zwang von Anstand klebte zwischen den Stühlen und den Leuten, die darauf saßen. Ich dachte: „Wie falsch.“ Und gähnte.

PROSA.

Der weiße Steinbock

Es war Nacht. Ihr Zimmer war dunkel. Keine einzige Lichtquelle leuchtete. Nur auf der Handy-App lief Einschlaf-Musik. Das Bild auf der App zeigte einen sphärischen Raum zwischen den Planeten.
Im Kühlschrank herrschte Leere. Der Esstisch und der Schreibtisch waren ebenso leer geräumt, als würde sie hier nicht wirklich leben. Sie, eine junge Frau von Mitte 20, lag im Bett ohne Decke. Ihr war kalt auf der Haut und im Herzen. Ihre Tränen versiegten irgendwann, bevor sie den Schritt unternahm und aufstand. Mit einem Top und Unterwäsche bekleidet, stieg sie in ihre Schuhe und zog sich den schwarzen Mantel über. Alles, was sie mitnehmen wollte, waren zwei Liter Wasser und ihr Handy, samt Kopfhörer. In ihre Manteltasche hatte sie schon zuvor Tabletten zurecht gelegt. Die Tür zog sie mit einer entschlossenen Handbewegung zu. So verließ sie ihre Wohnung und somit auch ihr Leben.
Draußen vor der Tür war es kühl. Die kalte Januar-Luft versetzte die Bäume und Sträucher in leichtes Zittern. Die Straßenlaternen schienen trostlos auf die leere Straße. Diese war noch nass vom Regen. Mit hängenden Gesichtszügen ging sie Richtung Wildgehege im nahe gelegenen Wald. Manchmal machte sie ihre Augen für ein paar Sekunden zu. Sie hatte schon mit der Welt abgeschlossen. Dann prasselten plötzlich wieder Regentropfen auf ihre Augenlider. Heftig zitternd ging sie schneller. Der Wildpark war nicht besonders weit weg, wenn man zu Fuß lief. Früher war sie oft mit Freunden oder Bekannten dort spazieren gewesen. Einmal hatte sie auch ihre Kamera dabei, um die Ziegen und Rehe zu fotografieren. Die Fotos befinden sich noch immer auf ihrer Festplatte.
Der Regen wurde immer stärker, weshalb sie ihr Tempo nochmals beschleunigte. Sie wollte es hinter sich bringen. Dort angekommen, spazierte sie ein letztes Mal an den Rehen und Hirschen vorbei und an den Wildschweinen, bis sie sich schließlich auf der Bank vor dem Ziegengehege niederließ. Darauf folgten mechanische Bewegungen eines zitternden, dem Tode selbst geweihten Körpers. 50 Schlaftabletten schluckte sie innerhalb von zwei Minuten. Immer fünf auf einmal mit einem kräftigen Schluck eiskalten Wasser. Der Mantel, der sie hätte wärmen können, lag längst im Matsch. Das restliche Wasser kippte sie mit zusammengebissenen Zähnen über ihren fast nackten Körper. Auch der Kopf wurde nicht verschont. Das Zittern war nun mehr als deutlich sichtbar geworden. Die Ziegen schliefen. Auch sie schaltete nun ihre Einschlafmusik auf dem Handy an und zog ihre Kopfhörer auf. Nach einer Minute schon schaltete ihr Bewusstsein ab. Die Schlaftabletten waren stark. Ob sie in dieser Nacht erfrieren würde? Ein Traum geleitete sie in eine andere Welt. Sie träumte von sich selbst, wie sie dort lag – sterbend – und immer wieder im Geiste wiederholte: „Bitte holt mich ab. Ich will es so.“ Ihr Wunsch wurde erfüllt. Jemand kam. Es war jemand in der Form eines weiß-strahlenden Steinbocks. Sie sah die helle Silhouette von ihm und den Lichttunnel hinter ihm. Er sprach nicht, doch verstand sie, dass sie gehen durfte. Sie warf einen letzten Blick zurück in den dunklen Tierpark und auf ihren toten Körper. Sie nahm Abschied. Der weiße Steinbock geleitete sie stolz und warm durch den Tunnel in die andere Welt. Leichtigkeit und unbegreifliche Liebe durchströmte sie. Sie war wieder zu Hause angekommen.

PROSA.

Ein Spiel zwischen Raum und Zeit

Dort oben waren sie zu Hause. Sie flogen manchmal rhythmisch, manchmal durcheinander, manchmal ruhig kreisend über meinem Bett umher. Bunte Schatten. Ohne Augen, ohne Ohren, ohne Mund, ohne Nase, ohne Gesicht. Ohne Kopf. Die Gliedmaßen veränderten sich stets. Alles war im Fluss und im Einklang miteinander. Es machte Spaß, zuzuschauen. Es war beruhigend. Es gefiel mir. Es inspirierte mich. Es regte meine Fantasie an, bis ich in einen tiefen Schlaf fiel.
Irgendwann, bevor ich aufwachte, hatte ich noch einen bemerkenswerten Traum. Er handelte von einem dieser Wesen, dessen Schatten ich zuvor beobachtet hatte. Dieses Wesen war nicht unsichtbar, aber ich konnte es mit meinen Augen nicht wahrnehmen.Auch konnte ich es weder riechen noch schmecken noch hören. Das einzige, was mir möglich war, schien das Tasten durch Raum und Zeit zu sein. Das Wesen führte mich in einem Dreieck durch die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Es war eine Art Spiel für dieses außergewöhnliche Geschöpf. Das Spiel ähnelte einem Hüpfspiel, das kleine Kinder auf der mit Kreide bemalten Straße spielen. Ich kam mit dem Hin und Her Springen nicht so gut zurecht. Es war ungewohnt und bereitete mir Schwindel. Andererseits war ich auch abenteuerlustig und interessiert an vergangenen und noch werdenden Zeiten. Das Wesen wirbelte mit mir herum und als es mir dann doch zu viel wurde, wachte ich auf und konnte mich kaum noch an die Inhalte der verschiedenen Zeiten erinnern. Was blieb, war eine Begegnung mit einem verspielten, freundlichen und übernatürlichen Wesen.
Seitdem wartete ich jeden Abend in meinem Bett auf ebendiese bunten Schatten oben an der Decke. Sie kamen aber nie mehr zurück. Keiner von ihnen.

PROSA.

Der Hut

Elegant und doch bestimmt, sanft geneigt, aber recht dominant von sich weg zeigend, dringt der Schlüssel in das Schloss. Mit einem kräftigen Stoß öffnet er die Tür und füllt die leere und noch vom Spülen feuchte Schale. Das Ticken der Uhr wird immer schneller, ihm läuft die Zeit davon. Zielstrebig und doch wahnsinnig, packt er zu, rammt ihn ins Schlüsselloch, dreht und spuckt, während er sich umwendet, auf den Boden. Doch, was er vergaß, war sein Hut.

PROSA.

Option

Sie dachte, es ginge nicht ohne. Dann verschwand es, tauchte ab, war weg. Der Freiheit wurde ein Weg eröffnet. Für einen kurzen Moment erschien ein Portal, durch das sie hätte gehen können. Doch sie zögerte, blickte immer wieder zurück. Sie verstand nicht, was es bedeutete. Es war eine Chance, die sie sich nicht zu ergreifen traute.
Irgendwann war alles wieder beim Alten. Erst dann – in einem stillen Augenblick – sah sie ein, dass sie etwas verpasst hatte. Es war zu spät. Aus eigener Kraft fühlte sie sich dem beschwerlichen Weg hinaus nicht gewachsen. Das Portal war eine willkommene Gelegenheit, zu fliehen. Zu ent-fliehen. Diese Erkenntnis jedoch kam zum falschen Zeitpunkt. Würde sich jemals wieder eine derartige Möglichkeit ergeben?
Sie wusste es nicht und es interessierte sie auch nicht mehr, denn ihr Gedankensumpf sog sie ein. Weltenschwer versank sie darin und bemerkte nicht einmal den Unterschied.

PROSA.

Tänzerin

Die Wand war nicht das Problem.
In einem kurzen, bis zur unermesslich hohen Decke mit Wasser gefüllten Flur bewegte sich eine Akrobatin. Von eleganten bis fast schon kämpferisch starken Figuren posierte sie für das stumme Publikum. Das stetig zu verdrängende Wasser um sie herum gehorchte ihr widerstandslos.
Nach und nach erkannte man eine überspielte Anstrengung, die sich zunächst langsam und dann immer schneller steigerte.
Vielleicht wurden ihre Bewegungen hastig.
Vermutlich klopfte sie dann und wann wie in Zeitlupe gegen die schweigende Scheibe.
Möglicherweise öffnete sie ein paar Mal den Mund, als wollte sie atmen.
Wahrscheinlich schrie sie jemanden an. Oder bat um Hilfe.
Ich glaubte im Hintergrund jemanden gehört zu haben. Eine männliche Stimme. Lachend. Und versichernd, dass sie das schon durchhält. „Noch eine Weile.“

PROSA.

Sein Werkzeug

Schnell, scharf und schmutzig – so war sein Verstand.
Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Im Kreis des Grauens. Bishin zu völliger Orientierungslosigkeit wand er sich in seinen Windungen, die wie Wind in seinen Ohren verstaubten und dann zerfielen wie Marmelade, die zu flüssig war. Aber immerhin ging das Gehör nicht kaputt von den lauten Ideen, die er immer und immer wieder innerlich vor sich her sagte. Seltsamerweise knickte er ein, sobald er aufwachte und sich streckte. Niemals dachte er daran, zu leben. Er starb einfach. Natürlich machte ihm das Sterben nichts weiter aus – es gehörte zum Leben dazu. Aber manchmal beschlich ihn der Gedanke, dass er doch einmal versuchen sollte zu leben, ohne dabei immer zu sterben. Denn: Er war noch jung und wollte eigentlich so sein wie andere Menschwesen. Er war ein Tierwesen im menschlichen Körper mit Tierseele, aber menschlich-göttlichen Gedanken. Ab und zu vergaß er zu atmen. Wenn er jedoch die Augen schloss, hauchte ihm jemand (wahrscheinlich eine Ameise) den Atem wieder ein und er war plötzlich lebendig.
Lebendig!
So lebendig, dass er es sogar schaffte, den Müll herunter zu bringen. Gelegentlich hörte er die Stimme des Rumpelstilzchens, das im ständig seinen Namen verriet. Doch er wollte das gar nicht wissen. Es war verboten. Verboten war im Übrigen auch das öffentliche Nachdenken. Zumindest für ihn. Er durfte das nicht. Er durfte nicht dies und er durfte nicht das, denn hin und wieder rutschte er aus auf seinen gedanklichen Konstrukten, wie auf einer Bananenschale. Nur, um sie dann aufzuheben und zu verschlingen. Aber dann und wann nahm er sie auch nur und setze sie sich als Kopfbedeckung auf den Kopf. Wieso nicht?
Eines Morgens stieg er aus dem Bett und sah sein zerknicktes Spiegelbild. Es sah fürchterlich schön aus. Er sah ein Menschwesen mit Katzenaugen und Salamanderhaut. Außerdem hatte er Pferdehaare und einen langen Rüssel. Ausgesprochen gut gefiel ihm auch die Bärenkralle, mit der er eine rote Linie auf seinen Unterarm zeichnete. Dann leckte er daran und schmeckte roten, bitteren Sirup. Eigentlich brauchte er das alles gar nicht. Aber er wollte es. Genauso wollte er es, weil er nämlich insgeheim richtig schlau war. Doch schlimm war seine Angst vor dem einsamen Rechnen in den Synapsen seiner hinter Türen verschlossenen spinnennetzartigen Gehäusen. Dort war er zu Hause und sonst nirgends. Nur dort, in der hintersten Schublade seiner Gedanken.
Alle wussten Bescheid über ihn und in Wirklichkeit wussten sie nichts. Nur er wusste zum Beispiel, dass durch die Adern der Blätter auf den Bäumen derselbe seltsame rote Sirup fließt, wie durch die Adern in seinem anthropomorphen Kabinettschrank. Und er wusste, dass das Innere von Walnüssen aus derselben Substanz bestand, wie die graue Masse, die sich in seinem Eierschädel befand. Des Öfteren philosophierte er auch über den Zusammenhang zwischen Tornados und Haarwirbeln. Aber meistens, wenn ihm nichts Besseres einfiel, bewegte er die Bärenkralle in Richtung Norden, um sie dann wieder südlich auszurichten und umgekehrt. Immer so weiter. Des Weiteren verbrachte er seine Zeit damit, Zeichnungen von merkwürdigen Mischwesen anzufertigen, die angeblich seine Familie darstellen sollen.
Nachdem er seine Kinderkleidung angelegt hatte, stand er ziemlich gut und ging waagerecht auf den Kühlschrank zu, um einen Schokoladenkuchen mit flüssigem Kern zu vernaschen. Dies tat ihm richtig gut. Er fühlte sich leer und doch voll zugleich, denn das Gefühl des Ausgesaugtwerdens wich und an dessen Stelle trat ein wohliges Empfinden der Entspanntheit in Kraft. Zur selben Zeit machte sich eine bestimmte Erschöpfung, die ihm eigen war, breit. Immer, wenn er das Prinzip des Vernaschens wahrnahm. Manchmal vernaschte er auch Tiere. Er war im Übrigen Vegetarier.
Er putzte sich die scharfen Eckzähne mit Schmirgelpapier und blickte abermals in den Spiegel. Diesmal sah er ein Raubtier, das seine Zähne fletschte. Er war bereit.
Draußen war es kalt und schwühl zugleich. Zumindest empfand er das so. Was er noch fühlte, war ein Stechen im Magen, denn er war nüchtern und sollte sich schleunigst eine Flasche Rotwein kaufen, um nicht vom Fleisch zu fallen. Gelassen und doch innerlich unruhig ging er schnellen Schrittes auf den geschlossenen Supermarkt zu. Es war Sonntag.
Was er niemals zu Tage förderte, war eine Arbeit, die ihn erfüllte, geschweigedenn, von der er leben konnte. Ebenfalls brachte er es nicht fertig, überhaupt einmal etwas Sinnvolles zu tun. Sowieso tat er kaum etwas anderes, als in seinem Gehirn herum zu wühlen und Dinge heraus zu kramen, um sie dann an einen anderen Ort zu tun und dann wieder Dinge zu verbinden, die ganz und gar nicht zusammen passten – aber das war sein Stil. Man mochte es ihm übel nehmen – aber das war sein Stil. Und er hatte Stil.
Als er merkte, dass es aussichtslos war, in das verschlossene Geschäft einzubrechen, holte er eine Zigarre aus seiner intimsten Hosentasche hervor und blubberte so vor sich hin. Dies war sehr stilvoll. Zudem pflegte er stets eine Hand in der Jackentasche zu verstecken, während er in der Großstadt umher irrte. Das war auch sehr stilvoll.
Nachdem er also resigniert und ohne Alkohol in einer dunklen Gasse verschwand, besorgte er sich eine Frau, mit der er sprechen wollte. Er fragte nach dem Weg zu einem Brunnen, um jünger zu werden. Die Frau schien zu wissen, was er meinte und verwies ihn in Richtung Osten, denn dort bekam er Hilfe. Er freute sich und tauchte ab. Allerdings war alles, was er vorfand, ein großes Gebäude, das die Aufschrift „Hexenwerk“ trug. In seinen Augen war das kein Brunnen, sondern eine Anstalt, wo Hexen gezüchtigt werden. Er war eine Hexe, also wollte er dort schon einmal nicht hin. Wahrscheinlich hatte die arme Frau etwas verwechselt und er musste nach Westen. Dort angekommen, fragte er ein 10-jähriges Kind nach dem Weg zum magischen Brunnen. Das Kind winkte ihn zu sich und die beiden rannten zusammen zu dem des Kindes Elternhaus. Die Tür stand offen und es war niemand zu Hause. Bis auf das Aquarium. „Dies ist der Schlüssel zur Unsterblichkeit“, sagte das Kind. Er jedoch traute der Sache noch nicht vollkommen und holte zunächst einmal ein Sieb, um die Fische heraus zu sieben. Dies gelang ihm spielerisch leicht. Anschließend nahm er einen Strohhalm und sog daran. Er merkte, wie er plötzlich keine Luft mehr bekam. Aber das machte ihm nichts aus. Er ertrug es mit Wohlwollen. Auf einmal aber spuckte er einen kleinen Wels aus und nahm ihn mit nach Hause. Dort legte er ihn auf seine Fensterbank und beobachtete wie eine Eule geflogen kam und den Wels an sich nahm. Er dachte noch: „Die muss ihn ganz schön lieb haben, dass sie ihn mir wegnimmt“. Aber dann überlegte er, dass sie das mit Absicht tat, um ihn zu ärgern. Denn das eulentypische Geuhue verriet ihm, dass sie ihn nicht leiden konnte. Er beschloss kurzerhand das Vieh telepathisch zu kontaktieren, um es zur Rede zu stellen. Also rief er es an und sagte, dass es in Zukunft gefälligst seine Eier woanders ausbrüten könnte – nicht mehr am Fenster vor seiner Duschkabine. Vor allen Dingen würde er seine alte Steinschleuder hervorholen und immer auf das Vieh zielen, wenn das Vieh es auch nur wagen würde, auch nur einen Millimeter in seine Richtung zu fliegen. All dies sendete er dem Vieh mit einem telepathisch sanft anstößigen Tonfall zu, sodass es sich einfach fernhalten musste.
Es war Abend geworden und er ging ohne Wein, ohne richtiges Verjüngungswasser und mit einer Menge grober, vager und unheimlicher Gedanken zu Bett.
Sein erster Traum war recht durchschaubar, denn zuerst besann er sich während des Schlafes der armen Frau, die ihm Auskunft über den Brunnen gab. Sie sah aus wie eine Hexe, deren Nase so krumm wie ein eckiger Apfel war und die hinkte wie ein falscher Marathonläufer. Sie verzauberte ihn, sodass er als Wels mit roten Punkten in einer Flasche Rotwein herum rannte. Davon wachte er schweißgebadet auf und trank einen Schluck saure Milch. Danach ging es ihm gleich viel besser.
Der nächste Traum raubte ihm glatt den Verstand: Er befand sich an einem Brunnen, der nur so von Worten sprudelte. Zum Beispiel flossen da die Buchstabenzusammenhänge „Falschrumheit“, „Tiefenstauung“ oder auch „Unechtschaft“. Er rätselte im Traum, was auch immer das bedeuten möge, aber hielt sich nicht länger daran auf, sondern blickte in eine andere Richtung, wo er eine Eule fliegen sah, die zu ihm sprach. Sie sagte, dass der Wels gut geschmeckt hat und bedankte sich ironisch bei ihm. Dies ärgerte ihn so sehr, dass er ihr den kleinen Finger zeigte und sich gleich darauf wieder dem Brunnen der ewigen Jugend zuwendete. Er erreichte sein Spiegelbild und nötigte es dazu, ihm Antworten zu geben. Das Spiegelbild sagte nichts, als dass er in Richtung Osten gehen müsse. Dies machte ihn so wütend, dass er das Bild bespuckte und gleichzeitig einen Buchstaben in seinem linken Auge spürte. Es war ein „Z“. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass das das Ende bedeutete. Das Ende für ihn, das Ende der Welt und das Ende aller Existenzen. Er bekam Furcht vor der Wucht dieses Einfalls. Und er weinte in den Brunnen der Verjüngung. Plötzlich wuchsen ihm Bart, Nägel und er schrumpfte zusammen. Vor Erschöpfung fiel er zu Boden und war sozusagen tot.
Sein eigener stummer Todesschrei weckte ihn auf.
Er sagte sich selbst, dass es aufhören musste. Diese Alpträume, diese Visionen.
Am nächsten Morgen verirrte er sich auf einer Landstraße, nachdem er nackt und ohne Gepäck eine Wanderung aufgenommen hatte. Er suchte verzweifelt nach dem ersehnten Brunnen, fand stattdessen jedoch nur eine kleine Pfütze, aus der gerade ein graues Eichhörnchen trank. Die Zeichen sprachen für sich. Er stand am Abgrund. Das Eichhörnchen war ein Symbol des Untergangs. Die Farbe grau verriet, dass alles zusammen gemischt wird. Jedes Ding löst sich in seine Bestandteile auf und verbindet sich mit jedem anderen Ding. Dann gibt es nichts mehr als eine immense graue Masse, in dem alles und zugleich nichts enthalten ist. Das machte ihm große Angst. Er versuchte, dieser Angst zu entkommen, indem er selbst von der Pfütze trank – das musste ihm helfen!
Aber das Gegenteil war der Fall: Sein Magen beschloss sich zu wenden und er transportierte eine gelb-grüne, ekelhafte Flüssigkeit aus seinem Hals und fiel geradewegs hinein. Er hatte noch so viel Bewusstsein, dass er grelle, bläuliche Lichter auf sich zukommen sah und dann wurde es nur noch schwarz und er schlief ein.
Als er wach wurde, fand er sich in einem hellen, weißen Raum wieder, in dem Orchideen standen. Er betrachtete diese flüchtig und sah darin eine fleischfressende Pflanze, die ihn bedrohlich anstarrte. Sie wollte ihn auffressen – dessen war er sich sicher. Das Maul der Raubpflanze weitete sich ungemein. Die scharfen Zähne blitzten im lichtdurchfluteten Zimmer und dann konnte er nur noch Schwärze ausmachen. Der Schmerz hallte in seinem Gehirn und Sirup lief ihm den Hals hinunter. Dann versuchte er, seine Augen zu öffnen – doch was war mit ihm geschehen? Er hatte keine Augen mehr. Er versuchte zu schreien – doch was war mit ihm passiert? Er hatte keinen Mund mehr. Er versuchte, wegzurennen – doch es gelang ihm nicht. Er war wie gelähmt. Er spürte wie jede einzelne Pore seines Körpers zerlegt wurde und an einen anderen Ort gelang – an einen Ort außerhalb seines Körpers. Nicht mehr ganz war er, sondern zerstückelt. Er wurde aufgefressen. Eine einzelne Wimper teilte sich in exakt 796 Teile, glitt den feuerroten Rachen der Mörderpflanze hinunter und verschwand. Ward nie mehr gefunden. Seine Nase rannte ihr nach, doch es war hoffnungslos, denn diese rutschte auch den dicken Hals hinab. Seinen Ohren blühte dasselbe Schicksal, eins nach dem anderen. Zuerst hörte er laute klassische Folklore, dann Trompetengeschrei und zuletzt Applaus. Dieser galt ihm. Ihm allein. Es blubberten bunte Sternchen aus dem Maul des Gewächses, die eine Straße bildeten – die Milchstraße. Seine Finger wanderten dort entlang und hatten großen Spaß dabei. Die Blume schloss ihr Maul, während er so vor sich hin schmolz.
Er zerfloss förmlich.
Von einer Sekunde auf die andere bemerkte er ein spitzes Stechen in seinem Hinterteil. Mit einem Schlag wurden seine Augen wieder zurück in die Höhlen gepfeffert. Die Wimper setzte sich wieder zusammen und wurde an den Kranz gepappt. Seine Nase wurde nachlässig mitten ins Gesicht gesteckt und verlor Flüssigkeit, roten Sirup. Ebenso die Ohren. Diese wurden allerdings – tränentropfend – festgenäht. Aus allen Körperöffnungen floss in Wasserfällen liebesroter Sirup. Als sich diese Öffnungen wieder einigermaßen beruhigt hatten, öffnete er langsam die Augen. In der Ecke neben dem Bett war ein kleiner Spiegel über einem Waschbecken angebracht. Er stolperte dorthin, um sich seines Äußeren bewusst zu werden. Er erschrak ungeheuer, als er sein Spiegelbild erblickte. Er sah ein kreidebleiches Mann-Menschwesen mit einem Stück gemusterten Stoff um den Leib und Schläuchen, die aus den unmöglichsten Öffnungen herauskamen. Dieser Anblick schockierte ihn so sehr (besonders die Schläuche), dass er sein Werkzeug verlor. Er fiel zu Boden. Ein Totenkopfäffchen wendete sich ihm zu und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dies bekam er nur durch Umwege mit. Die Worte mussten zuerst ein Labyrinth durchlaufen, um zum Kern zu gelangen. Auf diesem Weg begegneten sie dem Zweifel. Er sagte, dass die einzige Möglichkeit aus dem Labyrinth zu kommen, der sichere Tod durch das Ersticken der Keime und das Herausziehen aller Schläuche sei. Die Worte ignorierten das und gingen weiter. Als nächstes trafen sie die Rationalität, welche zu ihnen sehr vorsichtig sprach und kund gab, dass man nur den Satz des Pythagoras anwenden müsse, um schließlich die Lösung, also den Ausgang des Labyrinths zu finden. Die Worte behielten dies im Hinterkopf, jedoch wussten sie insgeheim, dass es auch einen anderen Weg zum Werkzeug geben musste. Nach einer Weile lief ihnen die Melancholie über den Weg. Sie beklagte sich über einen Mangel an nährenden Schadstoffen und giftigen Tränensäcken. Auch sie ließen die Worte bald zurück in ihrem Leid, denn sie konnten nichts anderes dazu sagen, als das, was sie eben waren. Und diese Nachricht war für das Werkzeug bestimmt. Sie irrten noch ein wenig umher, bis sie schließlich auf den Pessimismus stießen. Dieser wusste sofort, was los war und riss die Buchstaben kurzerhand auseinander, sodass die Nachricht zerstört war.
Das Äffchen hoppelte davon, als wäre nichts gewesen.
Er bildete sich ein, sehr schwach, wie durch hundert Wände, eine Stimme zu hören, die „es ist ein Kind!“ schrie, bevor sein Werkzeug, ohne jegliche Verabschiedung, verschwand und niemals wiederkehrte.

Das Licht war schwarz
Das Licht wurd‘ weiß
Badete im Himmel.
Das Licht war schwarz
Das Licht wurd‘ weiß
Sendete die Freiheit.
Das Licht war schwarz
Das Licht wurd‘ weiß
Liebkoste den Vater.

PROSA.

Ohne Seife

Der Mond schien schwach ins Zimmer, während die Texte verstreut auf Tisch und Boden lagen. Ihre Gedanken waren schwer wie Blei, ihre Glieder ernst und tot. Augen fahl wie Seide. Und ein zermürbtes Gesicht, als hätte es Motten. Jeglicher Glanz verschwand, immer wenn der Blick aus dem Fenster den Regentropfen begegnete. Nichts bedeckte den dürren Körper, als ein Tuch um ihre Schultern, das violett und mitternachtsblau gemustert war. Die Worte klirrten dumpf in ihrem Kopf. Sie konnte sich nicht von ihnen trennen, denn sie nahmen keinen Abschied. Das war ein Fehler.

Der traurige Blick senkte sich hinab zum wertlosen Papier. Es hatte nur den Wert, den sie ihm zuschrieb. Doch in Wirklichkeit war alles egal. Die Schrift war egal, der Inhalt. Sie war egal. So bedeutungslos, aber sie lebte.
Die Wangen glühten vor Anspannung. Die Hände zitterten vor Ehrfurcht. Die Sinnlosigkeit der Sache versteckte sich vor ihr. Vielleicht war sie aber auch blind dafür. Wahrscheinlich hatte sie gar kein Bewusstsein für die Nichtigkeit und Notwendiglosigkeit der Dinge, die sie zu interessieren schienen. Schon fast lächerlich wichtig nahm sie die ganze Arbeit. Sie konnte nicht anders. Sie erlag dem Zwang der Sprache.
Heute war es nicht schön in der Welt der Literatur.

Die Sätze spielten mit ihrem Kopf. Sie verspotteten sie. Sie erniedrigten sie. Sie trieben sie bis an ihre Grenze. Hemmungslos tanzten sie um sie herum, wie eine Horde frecher Kinder. Dann wuschen sie ihr den Kopf, ohne Seife.

Mal laut dann leise, flüsterten sie ihr Dinge zu – nicht in die Ohren, denn sie waren nicht zu hören. Sie waren nur zu spüren. Sie gingen ihr durch die Haut. Bis in die innerste Pore ihrer Seele. Und dann verschwanden sie nicht, nein. Sie nisteten sich in ihr Gedächtnis ein, wie Parasiten und richteten dort großen Schaden an.

Sie verstand, dass sie wissen sollte, dass sie nichts weiß. Und sie wusste, dass Fantasie wichtiger ist als jegliches Wissen, denn dies sei begrenzt. Doch was war, wenn das Wissen um die Fantasie auch begrenzt wäre und sie daran hindern würde, ihre Fantasie auszuleben und grenzenlos werden zu lassen? Sie wusste, dass sie die Antwort auf diese Frage nicht kannte. Auch sie konnte aus einem Kreis kein Quadrat machen. Sie gab nicht auf. Sie befand sich keineswegs in einem Zustand des Stillstandes. Sie stand still. Und im Gegenteil: Sie dachte auch nicht nach. Sie überlegte nicht. Sie raste ohne Pause, ohne Verschnaufen, ohne Atmen. Tot. Tödlich schnell überschlug sie sich beinahe.

Sie schloss die Augen und sah: Einen Knoten. Einen Knoten aus Sätzen. Sie ergaben im Zusammenspiel keinen Sinn, sodass sie sich in die Quere kamen. Sie verschmolzen förmlich und lösten sich nie wieder. So entstand ein neuer Sinn und eine neue Bedeutung der einzelnen Worte.

Sie wollte nicht schlafen; sie wollte nicht essen. Sie wollte nur eines, den Zusammenhang und schlussendlich den Sinn der Sätze herausfinden. Ob ihr dies noch heute gelang, in dieser Nacht? Das war zu bezweifeln. Denn sie war nicht mehr da.

Sie war nicht sauber. Die Reste des Tages und der ganze Müll, den sie über Wochen, Monate, Jahre angesammelt hatte, flog wild in ihr herum. Es war bereits so weit gekommen, dass ein turbulenter Wirbelsturm alles aufwirbelte, was nicht angewurzelt war. Alles wurde in Frage gestellt und mit allem wiederum verknüpft. Querverbindungen waren die Lösung für jedes Problem und gleichzeitig die Frage jedes neuen Problems. Der Sturm wütete noch bis in die späten Morgenstunden, während sie stumm zu keinem wirklichen Ergebnis kam. Man könnte es höchstens „Illusionen von verwirrenden Zwischenergebnissen“ nennen, doch eigentlich hatten sie noch nicht einmal diesen Titel verdient.

Um halb zehn Uhr morgens legte sie sich flach auf den harten Boden in ihrem Zimmer und starrte die Decke an. Es bildeten sich Schatten. Schatten von Texten. Die abgespeicherten Bilder der diagonal gelesenen Texte. Sie las sie. Nein, sie überflog sie. Sie filterte die für sie wichtigen und die sie reizenden Stellen heraus, um sie zu verstehen. In Wirklichkeit aber verzettelte sie sich dabei so sehr, dass in ihrem Kopf ein Gewirr aus philosophischen Fragestellungen, künstlerischen Motiven und sonstigen literarischen Ergüssen stattfand. Sie jedoch sah das alles in der Gesamtbetrachtung wie ein riesiges Mosaik, das aus den verschiedenen Bruchstücken (von ihr) zusammengesetzt werden musste, um den Sinn des Lebens, ja den Sinn der Welt nachvollziehen zu können. Objektiv betrachtet, herrschte in ihrem Kopf ein einziges Chaos – nicht für sie: Sie stapelte (oberflächlich gesehen) ähnliche Inhalte und sortierte sie. Sortierte, sortierte. Sie war ein wahres Organisationstalent. Sehr talentiert war sie im Übrigen auch in dem Verfassen von eigenen Texten. Sie hörte sich selbst ihre imaginären Texte lesen, niederkritzeln. Sie hörte nicht auf. Auch, als die Kirchturmglocke zwölf Uhr Mittag schlug, nicht. Im Gegenteil. Sie sah dies als ein Zeichen des aktiv werden Müssens an. So sprang sie auf und holte sich Stift und Papier. So nackt wie sie war, nur mit ihrem ornamentalen Tuch bekleidet, schrieb sie willkürlich ihre Gedanken quer und gerade auf das Blatt. Das ergab ja so viel Sinn! Eine Feststellung nach der anderen erschien auf der weißen, leeren Fläche. Es folgten Fragen. Darauf Antworten. Immer so weiter, bis das Blatt voll war. Doch dies störte sie nicht im geringsten. Sie schrieb schlichtweg auf Tisch und später auf dem Boden weiter. Die Wände waren auch noch recht kahl – ihnen blühte das gleiche Schicksal. Alles entwickelte sich weiter; ihre Ideen, ihre Erkenntnisse. Sie wusste nicht mehr, wer sie war.

Ich denke, also bin ich, dachte sie, um sich selbst wieder zu fangen. Doch dies war nur ein kurzer selbstreflektierender Moment in der Fülle ihres philosophischen Rumgeplansches.
Sie war äußerst intelligent, aber nicht schlau genug, um (genug) über sich selbst nachzudenken. Sie dachte über alle möglichen Existenzen nach, nur nicht über sich selbst. Sie war außen vor. Sie war bloß das Medium der Erkenntnisgewinnung. Ihr Kopf dachte, ihre Hand schrieb und ihre Seele war etwas, dem sie schon lange keine Beachtung mehr schenkte. Sie selbst tangierte sich selbst nur peripher. Sie spürte sich selbst nur bei der Befriedigung bestimmter Grundbedürfnsse und allein diese vernachlässigte sie enorm. Sie fand keine Ruhe und keine Zeit für sich selbst, denn das Forschen nach Erkenntnissen war ihr weitaus wichtiger.

Irgendwann, als sie keinen Platz mehr in ihrem Zimmer für Notizen fand, beschlich sie das starke Bedürfnis, der eiserne Drang, all das wieder zu zerstören und hinaus in die Welt zu treten, um…

… Um die Wahrheit zu suchen.

Es waren die Scherben der Welt, die sie so sehr reizten. Ein regelrechter Zwang für sie bestand darin, alles Gesagte, Geschriebene, Verbildlichte und andersartig Gedachte zu durchdringen, zu einem Ganzen zusammmen zu fügen und in seinen ursprünglichen Zustand zurück zu versetzen. Sie empfand dabei einen Antrieb, der nicht mehr der Norm entsprach. Dies widersetzte sich jeglichen Maßstäben, denn sie war besessen. Absolut.

Das helle Licht brannte in ihren trübklaren Augen, sodass sie sie zusammen kneifen musste und somit nur noch einen schmalen Schlitz ihrer Umgebung wahrnahm. Die Vögel zwitscherten und verursachten eine Störung ihres Gedankenflusses. Sie band sie nämlich mit ein und das lenkte sie vom Eigentlichen ab. Sie dachte: „die Vögel sind so frei in ihrer Mobilität wie der Mensch frei in seinem Denken ist. Aber schnell verworf sie die letzte Feststellung wieder, denn, was sie sicher wusste, war, dass der Mensch alles andere als frei ist. Regelrecht unfrei, gar gefangen in seinen eigenen Emotionen und unbewussten Regungen. „Doch genug der Theorie“, dachte sie. Sie ging schneller, rannte fast, sprintete. Sie hatte kein Ziel, außer ihr geistiges. Und das verfolgte sie nicht mehr mit konventionellen Mitteln. Sie stellte sich vor, schneller denken zu können und so zu einem Ergebnis zu kommen, wenn ihr Körper sich schnell bewegte. Übrigens hatte sie immer noch nicht mehr an, als ihr Tuch. Mit nackten Füßen flog sie über den Asphalt, über Wald und Wiese. Vor ihr lag ein großer See. Sie steuerte darauf zu, zog an und – explodierte.

Das eiskalte Herbstwasser sog ihr den Verstand aus den Gliedern, sodass sie nicht mehr dachte, sondern sich auf einmal von ihrem angesammelten Dreck entledigte. Sie reinigte ihren Kopf – ohne Seife.
Ihre Lippen wurden blau wie die einer Eiskönigin. Sie bebte. Und erlebte einen kleinen Tod.

Danach fühlte sie sich leichter und doch miserabel zugleich. Sie stieg aus dem Wasser und drückte ihr Mitternachtstuch aus. Es war vollgesogen mit Wasser und Schmutz. Langsam trottete sie wieder nach Hause. Beinahe fand sie es nicht. Zuhause angekommen jedoch sah sie das Chaos in ihrem Zimmer und hatte plötzlich wieder einen ebeneren Sinn für Ordnung. Aber sie fühlte sich wieder schwer, doch diesmal war es anders. Es war eine angenehme Schwere, die von Erschöpfung, nicht Anspannung herrührte. Ihr Körper sprach wieder mit ihr – oder besser gesagt, sie konnte ihn wieder sprechen hören. Sie war nicht mehr taub für die Signale ihrer äußeren Hülle. Deshalb ließ sie alles stehen und liegen und stieg in ihr Bett.

Um Mitternacht stand sie wieder auf und betrachtete sich im Spiegel. Was sie sah, war nicht eindeutig. Sie verzog keine Miene, aber ihr Gesicht war nicht neutral. Sie spürte, dass sie etwas ändern musste. Sie holte kurzerhand einen dünnen Pinsel und schwarze Farbe. Sie war geschickt und klug. Denn sie zeichnete Worte spiegelverkehrt in ihr Gesicht, damit man sie als außenstehender Betrachter lesen konnte.

Es bildeten sich Sätze, wie:
„Nachts gurgeln im Sumpf der Wahrheit.
Erkenntnis durch kriegsverführerischen Einsatz des Verstandes.
Immerzu der Straße des Nichts entlang und wieder zurück.
Die Rückkehr der Wiedergeburt ohne Grenzen.“

Als Gesicht und Dekolleté keinen Platz mehr boten, tastete sie weiter nach unten und beschrieb jede freie Stelle. Keine Falte wurde verschont.

Nun war ihr kompletter Körper bekritzelt mit weiteren Aussagen, wie:
„Endlich essen im Raum der Zeit.
Lebendig fühlen die Richtung der Wissenden.
Stein und Stock wieder eins und doch geteilt.
Scherben fließen den Strom hinab.
Die Höhe der Gleichgesinnten nimmt keinen Schaden an der Existenz der Zerflossenen. Rücklings reitende Gelehrte im See der Klarheit.
Lächerlich schwache Geister im Alter der Jugend.
Lachend schweifen dumme Weise ab.“
Die letzte Äußerung lautete:
„Und das Mondlicht scheint so schön.“

Nachdem sie ihren letzten Satz niedergepinselt hatte, sah sie wieder in den Spiegel. Sie fühlte sich bestätigt durch sich selbst. Sie war zufrieden. Daraufhin besann sie sich auf ihr unordentliches Zimmer, das sie nun aufzuräumen begann.
Mittlerweile schien die Morgensonne schwach ins Zimmer. Die Farbe auf ihrer Haut verflüchtigte sich so langsam, also beschloss sie kurzerhand, duschen zu gehen. Eiskaltes Wasser floss in Strömen die knochigen Schultern hinab und säuberte ihre Hülle oberflächlich. Sie entfernte die Farbe ohne Seife.

Wiederum nackt schlich sie durch ihr Zimmer und suchte nach ihrem ornamental gemusterten Tuch. Es war noch feucht. Also nahm sie es und rieb damit die beschriebenen Stellen an Wand und Boden ab. Nachdem dies fertig war, wusch sie ihr sonderbares Tuch aus. Natürlich, ohne Seife.

minolta (51)
Foto: Martina Grabinsky