Die Enge treibt uns in den Wahnsinn.
Befinden wir uns nicht schon längst in einem Luftschloss voller Illusionen?
Wo auch immer wir hinsehen, Freiheit bleibt ein Wort auf einem platzenden Ballon, an dem wir unerbittlich festhalten. Bis wir fallen.
Gleich darauf versinkt ein Teil von uns in Frustation, ein anderer in Resignation.
Und dann tauchen wir ab.
Unscheinbar und still verlässt uns ein letzter Gedanke an ein Leben von Luft und von Liebe, die schwindet, lange bevor der Atem vergeht.
Ob grausam oder friedlich – unser Ende ist das gleiche.
Ob es ein kranker Körper oder eine kranke Gesellschaft ist, die uns ersticken lässt – es ändert nichts an unserer unfreiwilligen Konsequenz, unser Leben in Luft aufzulösen.
Autor: Renée Nesca
Fragil Stabil I
Zittern, Denken, Kreisen.
Rasen, Ängsteln, Sinken.
Durchdrehen, drehen, drehen.
Drehen.
Ich weiß nicht mehr,
Wer ich bin,
Wer ich sein wollte,
Sein sollte.
Es kippt,
Denke ich.
Es ist nicht mehr wichtig,
Wer ich vorher war.
Gesundheit!
Danke..
Fragil Stabil II
Langsam driften driften,
Keine Unruhe mehr stiften
Chillen in den Rillen
Keinen Bock mehr auf
Rastlos Gehirne grillen
Einfach nur noch zum Alltag drillen.
Schlafen, schlafen, schlafen.
Quälend leise Reue fühlen.
Nicht mehr sinnlos im Gehirne wühlen.
Keine heißen Wangen kühlen.
Gerade noch zerfahren
Sag:
Immer Ruhe bewahren
Sag:
Alles wird gut,
Mit den Jahren.
Fragil Stabil III
Keuchend, rennend, weg vom Fenster.
Kerzen brennen,
Bis ich sie sehe,
Die Gespenster.
Jagen Angst,
Bangen schwer,
Treten langsam, leise, platt,
Den Bär,
Den wilden.
Bin wieder nüchtern, klar.
Im Geiste ganz schön rar.
Pillen schmelzen
Pillen helfen
Froh um heute,
Froh um morgen,
Und gestern vergess ich,
Mach dir keine Sorgen.
Morellen im Schatten
Weinend treibt die dunkle Schwärze das Rot in die Ecke, verbirgt nichts, als den Scham ohne Zweifel und mit großer Sorge um die Vergangenheit. Kohle fängt den fragmentarischen Suff ein und schwärzt und schwärzt und schwärzt den Nagel am anderen Ende der versifften Wand. Muster und Farbe verraten wenig über den eleganten Besitzer. Überdies schlägt die winzige, leicht übersehbare Kirchturmuhr viertel nach zehn. Die Zeit ist vorüber, sodass mikrige Quallen die Lichter blasen. Wenn die Situation faul wird, dann sind die Lichter schwarz. Wir sind im Land der schattigen Morellen.
Bleiches Pfannkuchengesicht leckt und schmatzt und zieht, wo es nicht ziehen soll. Saugt und leckt und schmatzt und zieht. Doch nein, es ist nur ein Kind. Es weiß nicht, was es tut.
Brennend und vor Schmerz stöhnend lege ich mich ins Bett und ziehe mich aus. Schließe die Augen und hoffe, dass mir dieses Biest vom Leibe bleibt. Aber nein, was ist das nur für ein Geräusch? Ich senke meinen Kopf und sehe das Kind, spuckend und lachend zugleich. Etwas in mir ändert sich von Schwarz zu Rot und von Weiß zu Schwarz.
Plötzlich höre ich die Kindesstimme flüstern. Kann es gar nicht richtig verstehen, jedoch vernehme ich einzelne Worte und setze sie ergänzend zusammen. Es ergibt einen grausamen Sinn: „Wolltest du nicht schon immer sterben.“ Es ist eine an mich gerichtete Frage ohne Senken der Stimme am Schluss. Irritiert schaue ich das sabbernde Kind an und verstehe nicht, was es von mir will. Im Halbdunkel wende ich meinen Blick ab zur Uhr. Schon halb Zwölf. Als ich den Hals wieder gerade drehen will, spüre ich Schleimiges an meinen Genitalien. Nicht schon wieder. Voller Ekel stöhne ich kurz auf, traue mich jedoch nicht, mich zu bewegen. Ich fürchte mich vor diesem Kind. Es scheint nicht ganz normal zu sein. Besser gesagt überhaupt nicht normal. Immerzu schaut es mich an aus seinen großen, blauen Kinderaugen, während es an meinem Glied saugt wie an einem Schnuller. Oder an einer weiblichen Brust. Ebendieses Glied, das ich meines nennen darf – kann, ach, muss! – ist hart wie Stein. Ich kann es nicht ändern, kann die Szene nicht umkehren, geschweigedenn beenden. Ich bin erfüllt von widerwertigen Gefühlen und doch brenne ich vor Lust. Ich bin scharf.
Ich versuche die negativen Gedanken wegzuschieben und einfach das Gute isoliert zu genießen. Das Kind macht feuchter Wangen und glückseligen Gesichtsausdrucks immer weiter und ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass es noch lange dauern würde, bis ich meinen Samen in den kleinen unschuldigen Mund ergießen würde. Aber es zieht sich hin, als wäre es gewollt. Ich unterdrücke andauerndes Stöhnen, doch irgendwann platzt es aus mir heraus und ich schreie und schreie, da sich nun alles in mir entlädt. Es ist unglaublich befreiend.
So laut ich schrie, so laut schrie auch meine Frau, die in der Tür stand – mit Einkaufstüten. Mein Schreien war so laut und ich war zu benebelt gewesen, um zu registrieren, dass sie gekommen war – mit mir. Sie blickte abwechselnd zu mir und auf unser gemeinsames und nun spermaverschmiertes Kind Morelle. Ihr vor Ekel verzehrtes Gesicht blieb nichtssagend. Tagelang änderte sich an diesem Zustand nichts. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, ja, aber ich wollte auch über diese Sache nicht mehr reden. Ich schwieg das Thema stattdessen im wahrsten Sinne des Wortes tot.
Eines Tages sitze ich mit dem Kind alleine in der Küche. Ich nehme mir eine Erdnuss und im Augenblick, als ich schlucken will, gleitet sie in meine Luftröhre. Ich sehe das Kind vor mir, wie es herzlich lacht und lacht, als gäbe es nichts anderes zu tun. Ich ringe um Luft, doch die Nuss steckt mir im Hals. Ich falle samt Stuhl um und werde bewusstlos. Eine leise Stimme dringt an irgendein waches Ohr der meinigen und kichert: „Als aus dem kleinen Tod ein großer wurde.“
Es war zu spät für jegliche Hilfe, er war erstickt. Seine Frau, trauernd und das Kind stillend auf dem Arm, denkt zurück und vorwärts und ist wieder im Hier und Jetzt, als sie ein starkes Ziehen an ihren Brustwarzen bemerkt. Erschrocken erblickt sie das Kind und fragt es sanft, und doch halb lachend: „Was machst du denn mit mir?“. Das Kind leckt und saugt und schmatzt und leckt und flüstert: „Wolltest du nicht schon immer ein bisschen sterben?“
Das Telefonat
So tröstlich war dies kurze Wort, diese kleine Ansprache. Die Abwesenheit seiner Worte, die Zielrichtung, welche sie einschlugen, war ebenso schön wie entmutigend, denn sie golten größtenteils nicht mir, diese Mitteilungen. Nein, es war jemand anderes, der sich, selbst nicht bewusst, dem Genuss der Stimme meines Freundes aussetzte – nichtsahnend, wie kostbar und wertvoll ebendiese zu bezeichnen ist. Für mich war es die Zigarette des Tages, die Nadel der Nacht, die Schokolade des Mittags, der Kuss des Lebens. Ja, es war wahrhaftig ein Beleben der inneren Lippen durch die Laute, die die seinigen verließen. Ganz und gar erfüllend für den Bruchteil einer Sekunde. Die Würze, die Akzentuierung. Die wundersame Betonung der zu betonenden Klänge. Und die Entschädigung für die Ausrede seines Zeitdefizits war der Trost einer Verschiebung. Inhalt gegen Formulierung, gegen Aussprache. Der vage Trost einer Vertröstung auf spätere Zeit ist nichts hingegen einer makellosen Zusammenstellung von Worten und nicht zu vergessen die Sprechgewohnheit des Gegenübers, die über den Inhalt hinweg verzaubern kann. Die Liebe zu einer Stimme, zu der Sprache eines Sprechers, ist wie die Morgenröte, die einem entgegen blickt, sobald man zu früher Stunde das Fenster öffnet. Kurzweilig und doch so intensiv. Selbst die Flüchtigkeit seiner Ansprache war tröstlich. Es war der Versuch, mir, seiner Zuhörerin, keinen Schmerz zufügen zu wollen und mich gleichzeitig recht effektiv abzuhandeln. Diese Gesinnung nahmen meine Ohren in feinster Nuancierung wahr. In jedem Wort, jedem Buchstaben steckten drei Worte, zwölf Buchstaben: „Es tut mir leid“.

Leben

Hungern, Dursten, Hecheln, Flehen,
Betteln.
Ohne Geld lernen,
Was es bedeutet,
Zu leben.
Ohne Seele keine Kunst
Welchen Anspruch ich an meine oder fremde Kunst habe
Es ist egal, welches Medium gebraucht wird. Ob vor mir eine Radierung, eine Fotografie oder eine Malerei liegt oder ob ich live an einer Performance teilhabe – die Technik macht lediglich einen oberflächlichen Unterschied. Tiefer geht es mir jedoch darum, dass jemand etwas zu sagen hat. Kunst darf schön sein; Kunst darf hässlich, eklig, schockierend sein; Kunst darf politisch, kritisch, provokant sein. Kunst darf alles, ja. Aber die Frage, die ich mir immer wieder stelle, geht in Richtung Sinnhaftigkeit. Natürlich liegt es im Auge des Betrachters, was als sinnvoll oder sinnlos erachtet wird. Jedoch nervt und langweilt mich vieles, was ich sehe. Wenn in einem Kunststudium darüber referiert wird, wie erhellend und erkenntnisreich es sein soll, ein Haus komplett schwarz und dann komplett weiß anzumalen, kann ich mich nur noch verständnislos abwenden. Wenn darüber diskutiert wird, ob Orange eine angenehme Farbe für eine Website ist, schalte ich schon innerlich ab. Wenn Professoren fragen, warum gezeichnete Augen ohne Kontext „so asiatisch“ aussehen, kann ich die Hochschule als einen Ort der Entwicklung nicht mehr ernst nehmen. Wieso stellen die meisten Menschen so belanglose Fragen? Wieso beschäftigen sich die meisten Menschen, auch in der Freien Kunst, mit belanglosen Themen? Wieso sind so viele Kreative einfach nur handwerklich fähig, aber ohne jegliche Inspiration, ohne Vision, ohne Seele?
Mein Auftrag ist klar und meine Kunst nur ein Mittel zum Zweck. Es mangelt mir selten an Kreativität. Sie ist für mich auch nicht das Endziel, sondern etwas, das ich benutze, um zu forschen und zu kommunizieren.
Sonne & Mond
Es lockt mich der Schein der Unwahrheit ins gute Leben
Nicht jede Sekunde verstreicht umsonst
Denn der Stiel des Unglücks ist endlich
Steig hinein ins Rad der Illusionen
Und komme zurück
Wenn Sonne und Mond nicht mehr miteinander streiten

Wenn die Möglichkeiten es unmöglich machen, sich zu entscheiden
Die Gardinen werden zugezogen, die Lampen ausgemacht und somit verschwindet jede Lichtquelle. Ich befinde mich in einem kreisrunden Raum, in dem aus jeder Himmelsrichtung eine Tür irgendwo hinführt. Dazwischen ist jeweils ein Fenster auszumachen. Jedes davon hat die Größe einer Tür, jedoch unterscheiden sich die Fenster durch spinnennetzdicke Gitterstäbe, durch die man nicht hindurch treten kann. Meine Augen spielen Taschenlampe. Mit dem linken Auge erhelle ich den Raum, in dem ich alleine und ohne Hilfe stehe. Mit dem rechten kann ich sehen, wohin mich die jeweiligen Wege führen werden, wenn ich durch die Tür schreiten würde. Mit zwei offenen Augen sehe ich nur Schwärze. Schließe ich beide Augen, wird mir offenbart, was hinter den Fenstern geschieht.
Es gibt so viele Möglichkeiten, doch da ist eine einzige Regel, der ich mich unterwerfen muss, sonst werde ich irgendwohin geschickt. Diese besagt, dass ich nur zwei Mal blinzeln darf, sonst blüht mir die Entscheidung des Zufallsgenerators. Ich überlege und habe dabei die Augen offen. Obwohl ich weiß, dass ich keine Chance habe, hinter die Türen oder durch die Fenster zu blicken, strenge ich mich an, vielleicht doch auf Hinweise zu stoßen, die sich in der Schwärze bemerkbar machen könnten. Jedoch werde ich enttäuscht. Leider habe ich keine Ahnung, was mich wo erwarten würde oder wie sehr sich die Wege voneinander unterscheiden. Reflexartig muss ich nach einigen Sekunden die Augen schließen. Nacheinander wird es Morgen hinter den Fenstern zwischen den Türen. Ein Blinzeln ist schon verbraucht. „Was nun?“, frage ich mich nervös. Und was bedeutet es überhaupt, wenn ich die Welt hinter den Fenstern durch mein inneres Auge sehe? Mir kommt immer ein Gedanke in den Kopf, der lautet, dass ich weise entscheiden sollte. Das erscheint mir jedoch fast unmöglich.
Inzwischen ist die Sonne hinter den Fenstern aufgegangen und die Aussichten erleichtern meine Entscheidung auch nicht gerade. Nordöstlich erkenne ich dichten Fichtenwald mit seltsamen Luftballons zwischen dem Geäst. Es herrscht dort eine gespenstische Stille. Zwischen Osten und Süden mache ich viel graue Landschaft aus mit vereinzelten Rollstühlen, die scheinbar unabhängig voneinander dort stehen. Das nächste Fenster zeigt mir einen Laden mit Kostümen für Marionetten, die alle ein wenig an Priester- oder Pfarrersroben erinnern. Hinter dem letzten Fenster verbirgt sich blauer Nebel, der sich zyklisch in Tröpfchen zusammenzieht. Diese verwandeln sich wiederum schwerelos in umher schwebende Glaskugeln. Diesem Kreislauf zuzusehen, lässt mich beinahe in Trance verfallen. Doch ich wehre mich dagegen und öffne aus Versehen dabei mein linkes Auge. Mein Herz bleibt stehen, ehe ich überhaupt realisieren kann, dass ich schon zwei Mal geblinzelt habe und mich jetzt, wo ich nichts außer den runden Raum sehe, entscheiden muss. Die Panik erreicht mein Bewusstsein. Mit klopfenden Herzen versuche ich rational zu einer Entscheidung zu kommen, doch ich versage. Jemand öffnet mir die Augen, ich werde durch eine Tür geschickt, durch die ich bisher nichts sehen konnte und auch jetzt nicht. Alles ist schwarz.
Jemand schnippt mit dem Finger. Die Tür hinter mir schließt. Es gibt kein Zurück mehr. Keine Chance auf einen anderen Weg.
Ich sage gedankenversunken „Ja“. Irgendwo fragt jemand „Was, ja“? Ich sage erneut „Ja“. „Ja, ich will“ und sehe mich dabei in meiner Umgebung um. Die Orgel ertönt und ich bekomme einen Kuss.
Jemand hat mich geheiratet.
